Motorradoverall für Alltagseinsatz

Dicke Bücher könnte man mit dem Thema Motorradbekleidung füllen. Von Mir-doch-egal-scheiß-drauf-T-Shirtfahrern bis zu Hochsicherheitsfanatikern mit einem unangenehmen Hang zu Splatter-Szenen („kein Meter ohne Leder, egal wie kurz, heiß oder was auch immer“) beteiligt sich die gesamte Bandbreite an Meinungen an solchen Forendiskussion, so daß es meistens total ausufert und in unsachlicher Polemik oder verhaltenen Drohungen endet. Und man hat da zuweilen den Eindruck, daß mehr geredet als gefahren wird, denn die tägliche Realität orientiert sich nicht an Extremstandpunkten. Ob z.B. bei 35 Grad im Schatten in zähflüssiger Fahrt das schwarze Hochsicherheitsleder oder eine luftige helle Textilkombi lebensfeindlicher ist, weiß man erst, wenn man es selbst erlebt hat. Nicht selten hört man von Sicherheitsfanatikern dann die Aussage: bei Hitze fährt man eben nicht. Also Sommerpause. Winterpause sowieso. Da bleibt dann eigentlich nicht mehr so viel Zeit zum Fahren und zum Erfahrung-Sammeln (passive Sicherheit ist nicht die einzige Form von Sicherheit). Weitere nennenswerte Risiken sind Dehydrieren oder Überhitzen.

Im Pendleralltag steht Klamottenextremismus jedenfalls nicht zur Diskussion, und bei mir genausowenig bei den ganz wenigen zeitlich möglichen Freizeitfahrten. Es kann letztendlich immer nur ein Kompromiss sein, der für eine/n individuelle/n Fahrer/in die bestmögliche Sicherheit bietet. Nichtsdestotrotz, Leichtsinn oder Blödheit würde ich dabei gerne ausschließen.

Für mich war das moderne Mittelklasse-Motorrad oder ein Motorroller immer auch ein Verkehrsmittel mit den Attributen: wartungsarm, wirtschaftlich, zeitgemäße Ein-Personen-Mobilität, genuß- und freudvoll, abseits der Hauptrouten, wenig Parkplatzsorgen, Sicherheitsaspekte, Technikaspekte. Man hat auf meinen sehr schönen kleinen Pendlerstrecken zum einen die perfekte Verbindung von Freizeitwünschen und Alltagsbedarf, zudem eine Pufferphase zwischen Arbeit und Familie. Andererseits ergeben sich dadurch besondere Anforderungen an die Klamotten. Ich gerate einerseits nämlich u.U. in absolutes Sauwetter, andererseits gibt es keine Zeit für die perfekte Kombination von Schichten, Materialien, Zusatzteilen, zum dritten ist auch kein Koffer voll Gepäck dabei. Es muß im Alltagseinsatz schnell gehen. Eine lange Ankleide- und Rüstphase ist nicht drin. Dazu besteht weder Möglichkeit noch Zeit, sich im Büro komplett umzuziehen. Das Teil muß ohne Gefrickel funktionieren, fertig. Mit Handschuhen, Helm, Sturmhaube, ggfs. Ohrenschutz, Halstuch, Rucksack und sonstigen Utensilien wie beispielsweise einem Nackenschutz oder einer Airbagweste, nicht zu sprechen vom sonstigen kleinen Pendlergepäck und den Schlüsseln hat man genug zu tun und schleppt wirklich ächzend alle Hände voll Zeug zum und vom Fahrzeug, kaum in der Lage, selbstschliessende Stahltüren in Tiefgaragen zu passieren. Im Alltag artet dieses ständige Gemache irgendwann aus und verleidet einem die tägliche Praxis nachhaltig. Reine Freizeit-, Urlaubs oder Hobbyfahrer haben dafür vielleicht kein Verständnis, daß man nicht vor jeder Fahrt 15 Minuten rumwurschteln will und kann. Ist aber so.

Was ich aber trotz lästigem Alltagsgemache und Zeitnot unbedingt vermeiden will, ist ein schlampiges Sicherheitsverhalten. Im Sommer begegnen mir zahllose Motorradfahrer ohne Handschuhe, offensichtlich im Tourenbetrieb. Ebenso häufig sieht man (vorwiegend) junge Fahrer in kurzen Hosen und auch ältere Fahrer in Sandalen auf den Trittbrettern ihrer Grosstourer. Das sind gravierende und ganz leicht vermeidbare Fehler auf einer Ebene, wo Abhilfe noch nichtmal mühsam oder hinderlich wäre. Sowas ist mir dann unverständlich.

Für mich ist klar, daß bei einigermassen verlässlichem Wetter und tendentiell längeren Straßenfahrten, meist im Freizeit-/Urlaubseinsatz ein Lederanzug mit Protektoren allein schon aus Sicherheitsgründen im Vorteil ist. Dabei ist mir der Aspekt des Einteilers besonders wichtig, weil ich mir um den Verbindungsreissverschluß oder eben um sich im Sturzfall gefährlich verschiebende Bekleidungsteile keine Gedanken machen will. Es wird gerne argumentiert, dass Einteiler im Normaleinsatz unpraktisch sind. Wenn man aber mit dem Motorrad wirklich motorradtypisch unterwegs ist, also nicht etwa auf Zech- oder Fresstour oder sowas, dann sind das keine nennenswerten Nachteile, wohingegen Handhabung und Passform beim Fahren, sowie die Sicherheitsaspekte für mich klar überwiegen.

Im Pendleralltag ist der Lederanzug meistens keine Option: zum einen passen keine Büroklamotten drunter, zum anderen wird bei Sauwetter die Fahrt zur Qual, das Krankheitsrisiko wird hoch, und nach einem Regeneinsatz ist ein Lederanzug für längere Zeit lahmgelegt. Eine Nutzung am nächsten Morgen wäre ausgeschlossen. Man müsste also mindestens mit einem guten Regen-Überanzug im Gepäck fahren (die taugen auch nicht immer was), wozu ich aber bei Alltagsfahrten weder Lust noch Platz habe. Und dann sind meine typischen Pendlerfahrten zu kurz für große Umziehpausen. Eigentlich würde man gerne durchfahren, auch wenns halt mal ein bisschen nass wird.
Und das Thema „Leder“ hat ja auch seine unguten Nebenaspekte. Wenn jemand aus bewussten Gründen auf Leder verzichtet, habe ich dafür volles Verständnis. Damals beim Supermototraining und bei Rennstreckenfahrten war es unverzichtbar, sonst hätte womöglich auch ich darauf verzichtet zugunsten dann vielleicht extrem teurer Textil-Lösungen. Am Rande bemerkt: es gibt inzwischen Textil-Sportkombis zu kaufen. Wie gut sowas ist, müsste man recherchieren.

Vor ewigen Zeiten brachte BMW Motorrad mit dem „CoverAll“ Cordura-Overall eine super Pendlerlösung auf den Markt. Ein Textileinteiler mit Platz für normale Straßenklamotten drunter, ggfs. auch ein dicker Pullover oder sonstige warme Sachen, mit Protektortaschen und weiteren praktischen Features. Der Einteiler ist relativ leicht verglichen mit Leder, ist sehr schnell angezogen, bietet aber doch einen gewissen Sturz- und Wetterschutz.

Damals brachte auch Louis einen sehr ähnlichen Anzug unter der Bezeichnung Vanucci auf den Markt. Einen solchen habe ich mir damals gekauft, und dieser Anzug hat mir sehr lange Zeit beim täglichen Pendeln gedient. Er war eigentlich unersetzbar. Zum Schluß war er dann schon ein bisschen verschlissen, der Hauptreissverschluß musste mal bei einer lokalen Schneiderei erneuert werden, und der Wetterschutz war auch nicht wirklich zuverlässig. Dennoch war dieser alte Anzug immer noch die häufigste Klamottenwahl beim Pendeln. 2017 habe ich diesen Vanucci Anzug leider unfreiwillig eingebüsst (er war längst nicht mehr im Handel erhältlich) und musste mir seither mit einem vorhandenen eher reiseenduroartigen Tourenzweiteiler behelfen, der im Pendleralltag nicht wirklich praktisch ist, mit zerfledderten Schichten nervt und mir zudem relativ lange Umkleidephasen beschert.

Heute kam endlich Ersatz für den Vanucci Cordura-Einteiler in Form vom ursprünglichen Original: ein makelloser BMW CoverAll Anzug als preisgünstige Abverkaufs-Neuware.

Erstaunt habe ich beim Auspacken erstmal festgestellt, daß der BMW Anzug subjektiv leichter als der alte Vanucci Anzug ist. Er kommt mir auch minimal dünner vor. Abgesehen davon ist dieses vom Listenpreis her gar nicht billige Teil sehr hochwertig gefertigt und hat eben den unschätzbaren Vorteil, daß man selbst in voller Straßenbekleidung schnell rein- und raussteigen kann. Das ist kein Vergleich zum mühsamen Anziehen des Textil-Zweiteilers über die normalen Klamotten, und es geht auch um vieles einfacher und schneller als beim Lederanzug.

Es versteht sich, daß man in so einen Anzug nicht in Minimalbekleidung steigt, sondern erstens für Kälteschutz, zweitens für eine strapazierfähige und polsternde innenliegende Klamottenschicht sorgt, die im Falle eines Sturzes hilfreich sein könnte. Anders als beim Lederanzug nur mit Motorrad-Funktionsunterwäsche drunter erfüllt hier die normale Klamottenschicht auf jeden Fall eine polsternde Schutzfunktion. Auch ein Rückenprotektor ist vonnöten. Entweder man steckt ein passendes Exemplar in die vorhandene Netzinnentasche, oder man trägt einen Extra-Rückenprotektor mit Riemen im Anzug. Hochwertige Motorradhandschuhe und Motorradschuhe komplettieren die Pendlerausrüstung selbstredend. Wenn ich mal einen polemisierenden „Kein Meter ohne…“ Spruch äußern dürfte, bei mir wären das die Handschuhe.

So ausgestattet überstehe ich meine Pendlertour bei leichtem Regen gut. Bei starkem Regen allerdings wird es trotzdem feucht, also 100% zuverlässig dichtet der Anzug insbes. im Sitzbereich nicht ab, und das war auch beim Vanucci Vorgänger so. Imprägnierung wird also empfohlen. Rein von der Handhabung im Alltag her und unter Betrachtung der Summe seiner Eigenschaften ist das Teil dennoch mein Mittel zum Zweck.

Ich wundere mich, daß es im Moment zu diesem schon recht betagten und keineswegs billigen Anzugtyp am Markt keine oder kaum eine Alternative gibt, und ich vermute, daß dieser Anzug aktuell abgesehen von Restposten nicht mehr angeboten wird. Offenbar gibt es aber lt. den offiziellen Webseiten nunmehr eine leicht abgeänderte Version in schwarz und grau. Ich würde mir mehr praktische pendler- und alltagstaugliche Motorradbekleidung in diesem Stil wünschen.

Update 09/2019
Mein Kumpel Markus hat mich auf den im neuen Shop am Salzburgring erhältlichen Klim Anzug Hardanger hingewiesen, quasi die teurere Edelvariante des obigen einfacheren Overalls.

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